Christoph Steinbach - Herbstbäume zum Licht, Foto 11.2017

Jeder Mensch ist Körperwesen, Seelengeist und Selbst zugleich. Wir leben, tun, wirken und sind nicht nur im Physischen, Dreidimensionalen, sondern auch im Seelischen und in höheren Sphären des Daseins. Alles dieses zeitgleich, hier und jetzt. In der Alten Zeit haben wir das weite Erleben unseres Selbst verdrängt, unser Bewusstsein auf die physische, ‹äußere› Welt verengt zum Zweck ihrer Errichtung und unserer Lebensschulung. Die Abkehr von weiten Teilen des eigenen Selbst ist ein Teil der Evolution, eine Phase der Entwicklung der Seele. Heute ist für sehr viele Menschen auf diesem Planeten das physische Dasein reich an Möglichkeiten, frei von physischen Übergriffen und wohlhabend. Dennoch suchen viele Menschen etwas, etwas scheint zu fehlen … 

 

Wahres Glück, tiefe Berührung, innere Weite, inneres Lächeln, innerer Frieden, Liebe und Erfüllung sind im Abgelenktsein von sich selbst nicht zu finden. Wer einmal das Gewahrsein erfahren hat, weiß fortan, dass spürbare Lebendigkeit, innere Weite, Leichtigkeit, inneres Lächeln, Reinheit, Frieden und Liebe wahrhaft erlebbar ist. Aus körperlicher Sicht scheint all das im ‹Innern› zu liegen, es scheint ein innerer Raum zu sein, den wir betreten können und dann im Alltag wieder verlassen, weil es ja noch andere Dinge gibt, um die man sich kümmern muss, die wichtigen Dinge … Glaubst du mir, glauben Sie mir, wenn ich sage, dass wir in jedem Moment innere Weite, Leichtigkeit, Reinheit, Frieden und Liebe sind?

 

Im Sicht-, Hör- und Tastbaren scheint dieses nicht wahr zu sein. Der Mensch scheint vollkommen abgegrenzt zu sein, scheint an den Grenzen seiner Haut zu enden, ist nicht immer leicht im Umgang, verhält sich oftmals weder rein noch friedlich und ‹Liebe› scheint nicht der wesentliche Ausdruck der Welt zu sein. Dieses ist das Erleben des Körperwesens.

 

Das Nicht-Erleben der Qualitäten des Selbst: Lebendigkeit, innere Weite, Leichtigkeit, Lächeln, Verbundenheit, Reinheit, Frieden, Liebe, Gestaltungsmacht liegt nicht an der Abwesenheit des Selbst, sondern an den Räumen aus Illusion und Täuschung, die wir im Denken erbaut haben und im Alltag immer wieder durchlaufen. Diese Räume sind voller alter Ansichten und fremder Eindrücke, ‹im Kopf› begrenzen wir unser Erleben auf einen kleinen Ausschnitt des möglichen Wahrnehmens und irren durch ein Meer aus fremden Bildern.

 

Wer das Gewahrsein erlebt hat, hat sich selbst einmal in Gänze erlebt, hat erfahren, wie es ist, Lebendigkeit im gesamten Raum des Körpers zu empfinden, zu spüren, wie sich die eigene Lebendigkeit über die Grenzen der Haut ausdehnt, wie das zuvor noch enge ‹ich› zum weiten Feld wird, leicht, lächelnd, mit den Nächsten verbunden, weithin verbunden ohne Unterschied zu den ‹Feldern› der Mitmenschen, in einem einzigen Schwingen alles, was ist und geschieht,  alles Sein und Tun durchwirkend, rein und friedvoll und in sich die höchste aller Kräfte: die Liebe.

 

In der Alten Zeit hat das Leben diejenigen, die das Gewahrsein in sich gefunden haben, zum Lebenslehrer erhoben und ihnen einen weithin anerkannten Platz in der Welt gegeben. Die Neue Zeit ist ein kollektiver Aufbruch in das Gewahrsein: Immer mehr Menschen finden es, finden sich selbst in diesen Zeiten des Wandels, ohne sogleich alles stehen und liegen zu lassen und als Bewusstseinslehrer durch die Städte oder sozialen Medien zu ziehen. Vor uns liegt eine Goldene Zeit, in der die Seele wieder Raum im Physischen erhält, die Kräfte der Ablenkung, Verführung und des inneren Einwirkens schwinden werden und wir mehr und mehr im Innen und Außen uns selbst gewahr sein werden.

 

Im vollständigen Erleben gehört das Empfinden des Körpers und die Eindrücke der ersten Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten zur physischen Existenz, das Hören und Sehen der Gedanken, das Fühlen und Spüren zur seelisch-geistigen und das reine Sein zum Selbst, das unwandelbar alles Leben bewirkt. Wer das Gewahrsein erlebt hat, kann sich in jedem Augenblick des Alltags, ganz gleich unter welchen Einflüssen und Umständen, mit sich selbst verbinden, vollständig erleben, und so voller innerer Weite, Leichtigkeit, Verbundenheit, Reinheit, Frieden und Liebe sein. Diese Verbindung zu sich selbst ist ein Weiten des Bewusstseins, ein Heraustreten aus den Räumen des Denkens in den Körper, in den Raum der körperlichen Mitte und in den Einen verbundenen Raum allen Seins und Tuns. 

 

Durch diesen Schritt weitet sich das innere Gesichtsfeld. Der Atem wird tiefer und entspannt sich. Nicht nur der Körper, auch die Seele richtet sich auf. Alle innerlich verstreute Aufmerksamkeit kommt in die eigene Mitte zurück, in die Eine Präsenz, in eine wirksame und spürbare Ausstrahlung. Wer das Gewahrsein in Momenten des Alltags für sich zurückerobert, nimmt Mitmenschen in all ihrem Sein und Wirken wahr, sieht das eigene Unerlöste, sieht das naheliegende Tun. Aus Sicht des Selbst und der Seele ist jedes Geschehen sinnvoll, ein Pfad der Entwicklung, bei vielen noch ein Pfad der Verwicklung, und es ist jedem Menschen selbst überlassen, ob er heilt oder verletzt, ob er sich im Bewusstsein übt oder sich in Ablenkung begibt.

 

Im Gewahrsein stehen Fühlen, Denken, Spüren, Sinne und Körperempfinden befreit nebeneinander, sind ein einziges Erleben, der Eine Fluss aus Sein und Tun. Alle Gefühle, auch Angst, Wut, Leid und Traurigkeit sind in Liebe erlebbar. Alle Gefühle sind allein vom Selbst gemacht und eine liebevolle Weisung auf dem eigenen Weg. Es gibt Ziele im Leben, die sich die Seele schon vor Beginn des physischen Lebens vorgenommen hat und von denen sie nicht abweicht. Der freie Wille des Menschen besteht vor allem in der Wahl der Zeit, die wir uns nehmen, der eigenen Berufung zu folgen oder Zeit verstreichen zu lassen.

 

Im Gewahrsein, im Hören und Sehen der Gedanken in sich, wird das Leben um eine Ebene der Kommunikation reicher. Viele Gedanken sind eigene, alte, im Gedächtnis gespeicherte. Viele sind aktuelle Ansprachen der Seelen der Nächsten und Mitmenschen. Einige stammen aus dem Selbst, sind Erkenntnisse, Hinweise zur Klärung, zur Heilung, zum nächsten Schritt auf dem eigenen Weg. Wer die Gedanken in sich hört und sieht und zugleich fühlt, spürt und den Körper empfindet, kann in jedem Augenblick sicher sein, aus welcher Quelle die Gedanken stammen.

 

Eine Erkenntnis ist mehr als eine bloße Idee, mehr als ein weiterer, neuer Gedanke, es ist jedes Mal ein Umbau der eigenen Gedankenstruktur. Eine Erkenntnis geht stets mit dem Erhöhen der Stimmung, mit der Öffnung des Herzens und damit dem Weiten des eigenen Feldes einher, mit dem eigenen Ausdehnen zum wahren Selbst. Wer eine Erkenntnis als solche erkennt, bewahrt sie in sich, schützt sie vor fremden Gedanken, die diese auszureden versuchen, erinnert sich oft an sie und handelt auch danach! Noch ist die Welt und sind viele Mitmenschen im Gemüt zu sehr verletzt, um die Liebe und das Gewahrsein eines Nächsten voll und ganz zu ertragen. Jeder verletzte Mensch wirkt auf den Nächsten ein, nur um nicht die eigene Wunde zu sehen, zu fühlen, zu denken, zu spüren und körperlich zu empfinden.

 

Wer das Gewahrsein in sich wahr und wirklich gefunden hat, kann sich in jedem Moment mit sich selbst verbinden, kann aus den Räumen der Ablenkung, der Illusion, der scheinbaren Machtlosigkeit heraustreten und aus sich selbst heraus tun und sein. Nach und nach wandeln sich die äußeren und inneren Umstände. Das Selbst klärt in liebender Weise sowohl die physische Welt des Menschen als auch die seelisch-geistige. All dieses geschieht nicht an einem Tag. Das Leben selbst kann dich in einem Atemzug in dauerhafte Befreiung und Erfüllung heben, doch ist dieses zumeist nicht der Wunsch der Seele und auch für Nahestehende wenig lebensdienlich.

 

Nach dem Finden des Gewahrseins ist es eine Kunst, das Gewahrsein in sich zu halten. Die eigene physische und seelische Welt ist nicht sogleich errichtet, auch der sich selbst gewahre Mensch braucht Geld, um die Miete zu bezahlen, der Körper ist nicht sogleich geheilt, weiterhin zerren andere Seelengeister an einem und es gibt eigene Muster und Verhaltensweisen, die in das Leben der Mitmenschen einwirken. Wer das Gewahrsein in sich gefunden hat, hat nun jedoch einen Zugang zu dem und der, die alles und jeden so sieht, wie es wirklich ist, die dich bis in alle Tiefe kennt, die Glück, Liebe, äußeren Reichtum, nährende Berührungen mit Mitmenschen und Erfüllung in jedem Augenblick bewirken kann: du selbst.

Übung